Die Schweiz wird dem Ausland oft als erstrebenswertes Modell eines modernen Staatswesens verkauft. Ein mehrsprachiger Bundesstaat, gegliedert in Gemeinden und Kantone, basierend auf einer funktionierenden Verwaltung und effizientem Rechtssystem. Eine Insel der Glückseligkeit? – Ihre Existenz verdankt sie neben der Disziplin und Tüchtigkeit des deutschen Schweizers dem Umstand, dass sie eine Zeitspanne überdauerte, welche das europäische Umland oft genug in Krieg und Elend versinken liess.
Noch von den Wirren der Reformation gezeichnet, blieb die Alpenrepublik selbst vor der Apokalypse des Dreissigjährigen Krieges verschont. Abgesehen vom klassenkämpferischen Bauernkrieg in den Jahren um 1653, sowie den reformatorischen Villmergerkriegen (1656/1712), kannten Generationen den Krieg nur aus der europäischen Tagesaktualität. Erst die französische Revolution 1789, in der Schweiz von der Romandie ausgehend, erschütterte die Eidgenossenschaft in ihren Grundfesten und veränderte sie nachhaltig. Das brutale napoleonische Besatzungsregime entfachte vor allem im Kernland der Eidgenossenschaft einen seit den Befreiungskriegen des Mittelalters (Morgarten, Sempach, Näfels) nicht mehr gekannten Widerstandswillen, der dann jedoch im Grauholz bei Bern niedergeschlagen wurde.
So rücksichtslos Napoléon jeden Widerstand unterdrückte, das Land in seine Interessenssphären aufteilte und ein Vasallengebilde namens «Helvetische Republik» errichtete, so nachhaltig waren die Folgen seines Diktats! Vorbei war es mit Identität und Volksbewusstsein. Der nach dem Sonderbundskrieg 1847 entstandene Bundesstaat liberaler Prägung komplettierte das «Werk» Napoléons, hinderte aber die weitere Entwicklung hin zu einem organisch gewachsenen Staatsverständnis und ebnete den Weg zu einer Schweiz, in welcher durch die Industrialisierung erste Einwanderungswellen ausgelöst wurden, die wiederum zu sozialen Konflikten zwischen Einheimischen und Fremden führten. Die Bindungen zum Deutschen Reich, dem die Gebiete der heutigen Schweiz unterschiedlichen Konstellationen zugehörig war, wurden gekappt. Die Epoche einer reichstreuen Eidgenossenschaft als Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (1034-1648) und darüber hinaus, gerieten in Vergessenheit. Dieses – ungeachtet der während des Ersten Weltkrieges offen zutage getretenen Gegensätze zwischen Stadt und Land auf der einen, sowie den Sprachgruppen auf der anderen Seite – verklärte Bild einer stabilen Schweiz verhindert jeden Ansatz eines historisch gewachsenen Staatsbewusstseins. Der 1848er Bundesrat aber mutierte zu etwas Endgültigem, zu einem Dogma: Jede vernünftige Debatte um eine an geschichtlichen Vorbildern ausgerichtete Staatsform wird mit dem Argument erstickt, damit den Status Quo von 1848 zu gefährden. Es braucht wohl mehr als das periodische Auswechseln von Köpfen an Wahlen, um die Schweiz wieder einen aufrechten Gang in der Geschichte zu ermöglichen.